URSPRUNG UND VERWENDUNG
Nach dem Grundsatz der souveränen Gleichheit, der in die VN-Charta von 1945 aufgenommen wurde, sind alle Staaten vor dem Völkerrecht gleich. Dies gilt unabhängig von der Größe des Territoriums, der Bevölkerung, Wirtschaft oder des Militärs. Außerdem haben die Staaten grundsätzlich die Kontrolle über die Angelegenheiten innerhalb ihrer Grenzen und sind vor unrechtmäßiger Einmischung von außen geschützt.
Der Grundsatz selbst ist seit langem bekannt und im internationalen Recht verankert. Was er jedoch in der Praxis bedeutet, hat sich im Laufe der Zeit und im Einklang mit den wachsenden internationalen Verpflichtungen geändert, insbesondere im Hinblick auf die Menschenrechte.
China verteidigt seit langem das Konzept der staatlichen Souveränität als Garant für Frieden, Sicherheit und Wohlstand. Häufig heben chinesische Staatsangestellte hervor, dass die „Nichteinmischung“ in die inneren Angelegenheiten anderer Staaten geradezu eine absolute Verpflichtung sei (siehe unten). Chinas Ansichten über das Recht souveräner Staaten, frei von ausländischer Einmischung zu sein, gehen jedoch weit über das beispielsweise in der Charta der Vereinten Nationen enthaltene Verbot der unerlaubten Gewaltanwendung und der bestehenden Verbote zur Bewaffnung oder Finanzierung von Rebell*innenbewegungen hinaus. Stattdessen bezeichnet China bloße Kommentare zu seiner Innenpolitik, ganz zu schweigen von Kritik an seiner Menschenrechtsbilanz, routinemäßig als eine unzulässige Form der „Einmischung“.
Chinas Entschlossenheit, um jeden Preis die staatliche Souveränität zu erhalten, spiegelt sich auch in der Entscheidung wieder, dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) nicht beizutreten. China ist zwar in dieser Hinsicht nicht das einzige Land, allerdings hat es sich darüber hinaus auch geweigert, einem der dazugehörigen Fakultativprotokolle beizutreten. Mit diesem werden Mechanismen bereitgestellt, durch die Einzelpersonen eine Klage gegen einen Vertragsstaat wegen einer angeblichen Rechtsverletzung einreichen können. Zudem hat sich China konsequent aus jeder Verpflichtung gegenüber Regeln zurückgezogen, die eine gerichtliche Streitbeilegung der wichtigsten Menschenrechtsverträge, denen es beigetreten ist, vorschreiben. Darunter fallen z.B. die Verträge des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR), des Übereinkommens gegen Folter (CAT), des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und des Übereinkommens zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung (CERD).
AUSWIRKUNGEN AUF DIE MENSCHENRECHTE
Die Argumente für eine „Nichteinmischung“ auf der Grundlage der „staatlichen Souveränität” sind nicht nur gefährlich. Sie sind auch unerheblich, wenn es um schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit und andere völkerrechtliche Vergehen geht, die laut Völkerrecht eine verschärfte Kontrolle von außen veranlassen können.
Wenn die Behörden von Staaten wie China heute diesen Grundsatz betonen, tun sie dies in der Praxis mit dem Ziel, den Wert internationaler Regeln und Institutionen im Bereich der Menschenrechte zu untergraben und sich selbst und ihre Staatsangestellten de facto vor Konsequenzen zu bewahren.
Das Argument der „Nichteinmischung“ lässt auch außer Acht, dass das, was innerhalb der Grenzen eines Landes geschieht, uns alle betreffen kann — wie Naturkatastrophen oder vom Menschen verursachte Katastrophen, wie etwa die Klimakrise und die COVID-19-Pandemie gezeigt haben. Auch wenn das Konzept der Souveränität klar erscheint, ist seine Anwendung in einer hochgradig vernetzten und globalisierten Welt nicht ganz eindeutig.
Die bloße Überwachung der Menschenrechte und die Erörterung oder Kritik von Menschenrechtsverletzungen — selbst die Verabschiedung förmlicher Erklärungen und Resolutionen — stellt keinen Eingriff in die staatliche Souveränität oder eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines Landes dar. Die Überwachung der Menschenrechte ist ein Mittel, um sicherzustellen, dass die Staaten ihre Menschenrechtsverpflichtungen gegenüber allen Menschen in ihrem Hoheitsgebiet und unter ihrer Kontrolle erfüllen. Es liegt in der Natur der Sache, dass die Überprüfung der Menschenrechte eine Untersuchung der „inneren Angelegenheiten“ von Staaten mit sich bringt.
UN-Generalsekretär António Guterres wies am 24. Februar 2020 vor dem Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen darauf hin, dass Regierungen den Grundsatz der souveränen Gleichheit missbrauchen könnten: „[Nationale] Souveränität darf kein Vorwand für die Verletzung von Menschenrechten sein. Wir müssen die falsche Dichotomie zwischen Menschenrechten und nationaler Souveränität überwinden.“